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Das (Bloody-Sunday) Wunder von Bern

Morgen Samstag geht’s zu YB nach Bern-Wankdorf. Zu jenem Ort, an dem Deutschland 1954 Weltmeister wurde, was – wie ein jeder weiss – als Wunder von Bern in die Fussball-Geschichtsbücher einging. Die Partie findet im Stade de Suisse statt. Das altehrwürdige Wankdorf-Stadion, Schauplatz des deutschen Triumphs, wurde Opfer eines weiteren Fussball-Grossanlasses, der Euro2008. Seit fast auf den Tag genau vor zehn Jahren spielt der Berner Sportclub daher im Stade de Suisse, dieser Kopie des Basler St.Jakobs-Park. Immer noch zweirangig, wie das Original einst. Dafür mit schwarzen Sitzschalen und plastifiziertem Rasen – Marazzi gönnte den Bernern doch noch einen Touch Eigenständigkeit. Das selbsternannte Nationalstadion der Schweiz zählt aber nicht bloss seiner architektonischen Biederkeit wegen nicht unbedingt zu den Lieblingsauswärtsstadien der FCL-Fans: Zum einen ist die Anreise kurz und ereignisarm – viel zu selten blockieren Kühe die Bahngeleise nach Olten und lassen den Extrazug kurzerhand übers Entlebuch tuckern, selbsterklärend und sympathischer Weise ohne Halt in Sursee. Und zum anderen schlitterte das Gästeblock-Catering – spätestens mit der Konkurs-Zwangsrelegation von Xamax – ganz nach hinten durch. Dies ist daher umso problematischer, als dass es insbesondere eben auch sportlich zumeist überhaupt kein Leckerbissen ist, als Blau-Weisser im Berner Stadion zugegen zu sein. In 19 Pflicht-Partien kassierte der FCL im Stade de Suisse 13 Niederlagen. Da täten zumindest n paar anständige Biere Abhilfe. Viele FCL-Geschichten, an die es sich zu erinnern lohnt, wurden im neuen Wankdorf also noch nicht geschrieben. Und doch gibt es sie. Da wäre zum einen selbstverständlich der Sieg von anno April 2008, als der FC Luzern seinen 0:1 Führungstreffer durch El-Idrissi mit zuletzt 8 Feldspielern über 90 + 8 (!) Spielminuten erfolgreich verteidigte. Auch der Spermien-Ausflug zur Fasnacht 2013 hat weiterherum für Aufsehen gesorgt. Und womöglich noch der Cupfinal 2007, den Schiedsrichterin Petignat allerdings kurz vor Spielende zugunsten des FCB entschied. Ansonsten pendelte sich die Stimmung auf der Rückreise aus Bern meist in den Graubereichen zwischen „Heul“ und „Gähn“ ein. Grosse Emotionen – welcher Art auch immer – blieben Mangelwahre. Doch etwas war da doch noch… Spätestens dann, wenn man im Gästesektor das erste Gedränge und die ersten Drehkreuze überwunden hat, und sich auf der steilen Treppe aufwärts befindet, umgeben von Zäunen, Kameras und mehr oder weniger freundlichen Herren mit schwarzer, von drei roten Punkten bekleckerter, Ausrüstung, ist jedem FCL-Fan wieder omnipräsent, an was dieser Gästeblock die blau-weissen Fussballanhänger in erster Linie erinnert: An den Sonntag, 16. November 2008. Als „Bloody-Sunday“ wird er im Nachhinein betitelt. Nasenbeine und Handgelenke brachen, Blut spritzte, Schädel brummten, blaue Flecken säumten Rücken und Arme. Von Alt und Jung, Mann und Frau. Die für die Stadion-Sicherheit zuständige Firma Protectas erstürmte den Gästeblock. Wegen drei Quadratmetern bemaltem Bettlacken.

 

Positive Vorzeichen
Doch alles der Reihe nach. Im Vorfeld der Partie war die Stimmung unter den FCL-Fans noch optimistisch-gut. Zumindest – ganz FCL-Style – verhältnismässig. Dem schlimmsten Schlamassel des völlig verkorksten Saisonstarts 2008/2009 schien man entronnen. Bis nach den Entlassungen von Sforza und Morinini(nie) dümpelte der FCL noch mit 2 Pünktchen aus 12 Spielen am Tabellenende rum. In der Zwischenzeit hat Rolf Fringer übernommen und die ersten beiden Partien unter seiner Leitung konnten gewonnen werden. In Bern peilte der FCL seinen dritten Vollerfolg in Serie an.

 

Politik unerwünscht
Ein Treffer von Varela brachte das Spiel aber schon früh in für die Gastmannschaft unvorteilhafte Schranken. Hinter anderen Schranken, denjenigen zum Gästesektor nämlich, glühte zur selben Zeit der Kopf des Verantwortlichen für die Sicherheit im Stade de Suisse. Im Gästeblock hingen zwei Banner mit der Aufschrift „Nein-zu-Polizeiwillkür.ch“. Die FCL-Fans erinnerten damit an das vier Tage zuvor erfolgreich (und spektakulär-chaotisch) eingereichte Referendum gegen den Beitritt des Kantons Luzern zum damaligen ersten Fankonkordat. Ein politisches Statement also. Das geht ja dann aber grad gar nicht, waren sich die Verantwortlichen rund um Sicherheitschef Hans Harnisch einig. Schon gar nicht in Bern. Schon gar nicht beim BSC YB, wo – wohlgemerkt berechtigte – gesellschaftspolitische Anliegen wohl weit öfters ins Stadion getragen werden als überall sonst in der Schweiz. (So übrigens auch an diesem Tag, siehe Nachtrag am Ende dieses Beitrags) Aber ähm, halt doch nicht solche. Mühsam für den Sicherheits-Chef: Die Banner wurden in den Wochen zuvor in allen Stadien, von Vaduz bis Neuchâtel, zugelassen und sie verstiessen in keiner Weise gegen das Sicherheitsreglement der SFL. Auch bei der Eingangskontrolle in Bern waren die beiden Transparente vom Sicherheitsdienst begutachtet und entsprechend zugelassen worden.

Der Luzerner Fanblock. Dicht gedrängt steht die Menge rund um die beiden Transparente.
Der Luzerner Fanblock. Dicht gedrängt steht die Menge rund um die beiden Transparente.

 

Master-Plan
Nun ja, nun hatten sie also den Salat. Trotz allen Widersprüchen war klar: Die beiden Transparente sollten weg, mussten weg. Die Verantwortung dafür an den Gastverein zu delegieren, scheiterte. Weder das mitgereiste FCL-Security-Team noch die Fanarbeit Luzern waren gewillt, die harmlosen Transparente zu entfernen. Also heckte Harnisch einen eigenen Feldzug gegen das Böse (Plakat) aus. Es kristallisierte sich ein Plan heraus, den sogar innerhalb der Kommando-Zentrale niemand wirklich ausführen wollte. Aber Harnisch wollte. Der Chef entschied. Seine Hampelmänner sollten ausführen.

So versammelten sich nach ca. 30 Spielminuten deren fünfzehn Protectas mit Helm, Schutzweste und Schlagstock an der Treppe zum Oberrang des Gästesektors. Sie zückten ihre Knüppel. Der Einsatzchef startete den Countdown. „Auf drei. Eins, zwei, drei“. Und los ging’s. Wie beim Bob-Fahren. Die 15 Nasen stürmten die knapp 1.5 Meter breite, steile Treppe hoch und prallten, oben angekommen, gegen die dicht gedrängte Fanmasse.

Die noch junge Fanarbeit Luzern, erst seit knapp zweieinhalb Jahren bestehend, schilderte die Ereignisse des Blocksturms wie folgt:

„Die Einsatzgruppe stürmte den Luzerner Fanblock und versuchte das Transparent an sich zu reissen. Wahllos schlug das Einsatzteam auf die Fans ein, Frauen und Kinder, denen jegliche Fluchtwege versperrt waren, wurden mutwillig traktiert. Im Anschluss flüchtete der Einsatztrupp in den daneben liegenden Sektor.“

 

Ehrlichkeit, Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft – und ein doppelter Handgelenkbruch
Was bewog Protectas und Stade de Suisse, sich wie Dampfwalzen durch mehrere Reihen dicht stehende Fans zu knüppeln, um derart unproblematische Transparente zu entfernen? Transparente, die mitunter nicht mal richtig gelesen werden konnte, weil sie von den davorstehenden Fans halb verdeckt wurden. In Nachhinein machte das Gerücht die Runde, der Knüppeltruppe sei infiltriert worden, sie entferne mit ihrem heldenhaften Einsatz rassistische Motive (Nachtrag, siehe am Ende dieses Beitrags). Protectas selber dementierte entsprechende Kritik nie. Ansonsten dementierten sie grundsätzlich alles. Und zwar umgehend und vehement. Der Protectas-Kommunikationsleiter Roman Lehmann bestritt beispielsweise bereits in einer ersten Stellungnahme jegliche Gewaltanwendung und rechtfertigte den Einsatz folgendermassen:

„Wir erhielten den Auftrag, zwei Transparente zu entfernen. Das eine konnte entfernt werden, das andere nicht. Nachdem ein Protectas-Mitarbeiter gestürzt war und sich beide Handgelenke brach, hätten sich die Sicherheitsleute geschlossen zurückgezogen. Wir schlagen nicht einfach auf Matchbesucher ein, ganz bestimmt nicht. Die Protectas-Mitarbeiter seien gut ausgebildet. Sie handeln stets im Rahmen des Verhältnismässigkeitsprinzips“.

So wie dies halt selbstverständlich ist für eine Firma, die sich gemäss eigener Homepage „drei grundlegenden Werten verschreibt: Ehrlichkeit, Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft“. Unternehmens-Moralvorstellungen und Norms-in-use scheinen sich nicht ganz deckungsgleich zu verhalten. Übrigens: Der doppelte Handgelenk-Bruch ertappte sich im Nachhinein – zugegebenermassen leider – als Falschaussage. Bei der akrobatischen Höchstleistung, auf den Schultern eines Kollegen stehend (!), jenes Transparent, welches über den Eingangslucken hing, herunterzureissen, stürzte der waghalsige Pyramiden-Turner. Dabei war er selbst durch und durch schwindelfrei. Doch der Mann unter ihm wich zurück, das Fundament fiel – und mit ihm der Banner-Hechtler. Immerhin: Dieses eine der beiden Banner schafften die Knüppelfreunde zu entwenden. Das verdient grundsätzlich doch etwas Anerkennung. Ganz im Ernst: Wer hätte gedacht, dass in einem derart „wohlüberlegten“ Plan ausgerechnet dieses hirnrissige Teilstück aufgeht?

 

Rückzug im Eiltempo
So schnell das Protectas-Überfallskommando in den Block hinaufgestürzt kam, so rasch brachte sich das 15-köpfige Team, von Fans die Treppe heruntergejagt, wieder in Sicherheit. Zurück blieb eine völlig überrumpelte Fan-Meute und jenste verletzte Anhänger, die sich verarzten lassen mussten. Blutverschmierte Gesichter hier, schmerzüberzogene Mienen dort. Zum Entsetzen und der Fassungslosigkeit mischte sich Wut. Den Beschwichtigungsversuchen besonnener Fans ist es zu verdanken, dass die Lage im Gästeblock (noch) nicht vollkommen eskaliert.

Das eine der beiden Transparente konnten die Fans erfolgreich verteidigen. Nach dem Protectas-Blocksturm hängt es am Zaun im Unterrang.
Das grössere der beiden “Skandal”-Transparente konnten die Fans erfolgreich verteidigen. Nach dem Protectas-Blocksturm hängt es am Zaun im Unterrang.

 

Schlagfertige Zugabe
Als sich die Situation im Gästeblock nach der Halbzeitspause, Luzern lag zwischenzeitlich 0:2 zurück, schon fast wieder ein wenig normalisiert hatte, folgte der zweite protectanesische Geniestreich. Zur Schilderung der Vorgänge zitieren wir erneut die Pressemitteilung der Fanarbeit Luzern, welche durch ihr Handeln an diesem und den darauf folgenden Tagen bei den Fans einen wahren Akzeptanz-Gump hinlegte:

„In der zweiten Halbzeit öffneten die ‚Protectas‘ kurzerhand das Gittertor [zwischen neutralem und Gast-Sektor] und bekam einen Fan zu fassen. Dieser wurde in den abgesperrten Sektor gezogen, brutal niedergeknüppelt und von 4 Sicherheitskräften weggetragen.“

Deeskalation wie aus dem Handbuch. Tja. Alle Dämme brachen. Auf die Protectas-Kampftruppe im Nebensektor hagelten Sanitäre Installationen nieder. Derweil konfiszierten und löschten die sogenannten Sicherheitskräfte von den sogenannten Fans Bild- und Videomaterial, welches den erwähnten Übergriff dokumentierte.

 

Vom Stadion auf die Strasse
Noch vor Spielende verliess ein grosser Teil der frustrierten FCL-Fans das Stadion, der Brandherd verlagerte sich nach draussen. Vor dem Stade de Suisse wurde mitunter auch die Polizei, die an diesem Tag effektiv schuldlos war, zum Leidtragenden der Geschehnisse im Stadion. Vierzehn Beamte wurden – gemäss offiziellen Mitteilungen – verletzt, als Luzerner und Berner Fans rund ums Stadion gemeinsam die Polizei attackierten.

Mit der Abfahrt des Extrazuges und der Rückkehr der FCL-Fans in die Innerschweiz, beruhigte sich die Situation im Gebiet Wankdorf. Abgeschlossen war dieser, für FCL-Fans in dieser Dimension bislang einmalige, Gewaltakt durch private Sicherheitsrambos aber noch lange nicht. Unter Federführung der USL wurden bereits nach Heimkehr Beweismittel gesucht und Anzeigen gegen die Verantwortlichen des Vorfalls vorbereitet. Auch der mediale Schlagabtausch rund um die Ereignisse stand erst ganz am Anfang. Drei Wochen sollte das Hick-Hack in den Medien dauern. Nicht nur in Zentralschweizer und Berner Zeitungen zierten die Ereignisse wiederholt Titelblätter und Online-Auftritte. Auch das Schweizer Fernsehen berichtete. Das alles in einer Zeit, in der man als Fussballfan noch die (naive?) Hoffnung (und Lust) hatte, die Öffentlichkeit von der Wahrheit zu überzeugen.

Wurden Schlagstöcke eingesetzt oder nicht? Das Thema war in den Medien drei Wochen lang präsent.
Wurden Schlagstöcke eingesetzt oder nicht? Das Thema war in den Medien drei Wochen lang präsent.

 

Krücken-Hooligans
„Vom Gewaltpotential überrascht“ titelte die Berner Zeitung am Montag. YB-Pressesprecher Charles Beuret legte nach: «Als die Protectas-Mitarbeiter die Transparente entfernen wollten, wurden sie von Luzern-Fans mit Fahnenstangen und sogar mit Krücken angegriffen. Die Sicherheitsleute seien von zum Teil vermummten FCL-Anhängern zurückgedrängt worden. […] Erst, als es darum ging, den angrenzenden Sektor voller YB-Fans und Familien zu schützen, wurden vereinzelt Schlagstöcke eingesetzt.» Ins selbe Horn bliess auch die Protectas. Nur, dass ihrer Meinung nach überhaupt keine Schlagstöcke zum Einsatz kamen.

 

Abwechslungsreiche Schadensbilanz
In den Fliesstexten der Berner Printmedien war das Bild aber schon etwas differenzierter:

“Aussagen von diversen Augenzeugen zeichnen ein anderes Bild: Auf unserer Intenetseite meldeten sich empörte Matchbesucher reihenweise zu Wort: Die meisten Augenzeugen beschreiben ein aggressives Vorgehen, viele bestätigen den Gebrauch von Schlagstöcken. Aus FCL-Fankreisen werden Übergriffe auf Unbeteiligte gemeldet. Die 29-jährige Tierpflegerin E. H. aus G. erzählt am Telefon von Prellungen, Blutergüssen und einer leichten Hirnerschütterung. „Ich stand im Gästesektor beim Treppenaufgang. Wir haben gesungen und das Team angefeuert.“ Nach 30 Spielminuten seien Sicherheitsleute in den Block gerannt. „Bevor ich flüchten konnte, erhielt ich einen Schlag und fiel zu Boden.“ Gestern liess sie sich beim Arzt untersuchen. Die Diagnose: Nasenbruch. „So etwas habe ich noch in keinem Stadion erlebt. Ich bin schockiert.“

Sie ist nicht die einzige Verletzte. In Ihrem Communique spricht die USL von:

„Blutende Nasen, Beulen am Kopf, zugeschwollene Augen, Verstauchungen, Prellungen, aufgerissene und geschwollene Lippen und tiefe Schnittwunden, die diagnostiziert und zum Teil vom Sanitätsdienst des Stade de Suisse vor Ort behandelt werden mussten. Viele dieser Verletzungen wurden inzwischen auch ärztlich bestätigt, darunter auch ein Nasenbeinbruch einer völlig unbeteiligten jungen Frau. Zwei Fans mussten krank geschrieben werden, weil die Verletzungen es ihnen vorderhand verunmöglichen, ihrer Arbeit nachzukommen.“

Die beiden Konflikt-Parteien schilderten also mit entgegengesetzten Aussagen zwei komplett unterschiedliche Vorgänge wider. Drei Tage schoben sich Stadion/YB/Protectas auf der einen Seite und Fans/Online-Kommentarschreiber/Fanarbeit/USL auf der anderen, gegenseitig die Schuld in die Schuhe. Aussage gegen Aussage. Es fehlten die (Bild)-Beweise.

 

„Es gibt kein Fehlverhalten von Protectas“
Dann am Donnerstag, Tag 4, die Bombe: „Videobilder entlasten Protectas“, verkündete die BZ. Jörg Häfeli, Präsident der SFL-Fankommission und seinerseits Chef der Luzerner Fanarbeit (welche den Einsatz scharf kritisierte) rechtfertigte nach Konsultation der YB-Stadionvideos die Aktion von Protectas. „Alles sei verhältnismässig gesehen“ , lautete sein Fazit. «Die Aufnahmen zeigen, dass die Protectas ihren Auftrag durchgeführt hat und dabei von Luzern-Fans schwerstens behindert wurde.» «Es gibt kein Fehlverhalten von Protectas. Sie hat ihren Auftrag vollumfänglich erfüllt», verkündete derweil Charles Beuret, YB-Pressesprecher. Die FCL- (und YB-)Fans verstanden die Welt nicht mehr.

 

Berner Toys‘R‘Us-Kameras
Wenige Tage später musste Häfeli peinlich berührt zurückkrebsen. Von „massiven Übergriffen“ war bei ihm nun plötzlich die Rede. Er hatte in der Zwischenzeit das Videomaterial der FCL-Security gesichtet. Dieses zeigte ein komplett anderes Bild von den Vorfällen. Und vorallem: Es war von weit besserer, bzw. viel weniger schlechter, Qualität als dasjenige, aus vier Winkeln zusammengeschnittene, der Berner. Jetzt war auch klar, warum keiner irgendwo Schlagstöcke gesehen hatte. Man sah sie effektiv nicht. Man sah aber eigentlich auch sonst effektiv nicht sehr viel. Zumindest auf jenen Sequenzen, die das Stade de Suisse Häfeli + Co. vorlegten.

 

Entscheidendes FCL-Video 
Die Aufnahmen des FCL-eigenen Sicherheitsdienstes belegten nun also den Schlagstock-Überfall von Protectas. Mike Hauser stellt sich nach Auswertung der vereinseigenen Bilder hinter die Luzerner Anhänger: “Die Aussagen der FCL-Fans stimmen zum grössten Teil“ . Die Medien schossen sich auf diese Neuigkeiten ein. „FCL-Video zeigt Schlagstöcke“ zierte die Front der Pfadizeitung. Die mediale und öffentliche Meinung kippte endgültig auf die Seite der Fans. Einzig die Protectas blieb ihrer Linie treu. Am selben Morgen veröffentlichte sie eine weitere Pressemitteilung. Darin attackierte Protectas die Fans direkt, warf ihnen unter anderem vor, dass „die angeblich so friedlichen Fans, durch ihre Taten sogar Tote in Kauf nehmen würden“.

Das FCL-Video war der Wendepunkt. Die Verantwortlichen des Stade de Suisse konnten ihre Lügengeschichten nicht mehr länger unter den Teppich kehren. Urplötzlich wurde daher versucht, die Angelegenheit aus dem Blickwinkel der Medien zu nehmen. Ein Runder Tisch mit allen involvierten Parteien und Exponenten wurde einberufen.

 

Bis zuletzt stümperhaft
Hinter mehr oder weniger verschlossenen Türen wurde dann also verhandelt. Zwischenzeitlich tauchte zudem noch der Bericht einer „neutralen externen“ Untersuchung auf, welcher dann aber unter Verschluss gehalten wurde. Die ganze Geschichte endete so unprofessionell wie sie begonnen hatte. Eine „Gemeinsame Medienmitteilung“ von YB, Stade de Suisse, Protectas, Fanarbeit, FCL und USL sollte einen Schlussstrich unter die Angelegenheit ziehen. Doch die sich in Diskussion und Verhandlungen befindende Zwischenfassung wurde von Seiten Berns vorzeitig und unabgesprochen versendet – ohne dass die Fans unterzeichnet hatten. In der Mitteilung gestanden die Verantwortlichen ein, dass der Einsatzbefehl falsch war – pochten aber weiterhin darauf, dass er verhältnismässig umgesetzt wurde.

 

Unbefriedigender aber sinnvoller Kompromiss
Mit Murren stimmten die Fans fast drei Wochen nach dem Spieltag einem „Kompromiss“ zu. Die Fanseite verzichtete darauf, die Verantwortlichen anzuzeigen – und entsprechend auf die Herausgabe der Videobänder. Als Gegenleistung wurden keine Stadionverbote für diejenigen erteilt, welche die eigenen Fans beschützt und sich gegen die Protectas-Angreifer zur Wehr gesetzt hatten. Stade de Suisse und – widerwillig dazu gezwungen – Protectas entschuldigten sich zudem öffentlich für ihr Vorgehen. Zudem erhielten die Geschädigten der Vorfälle von Berner Seite eine Schadenersatzzahlung geleistet, sowie Un- und Anwaltskosten beglichen.

Insbesondere die Geldzahlung wurde in den Medien breitflächig als Schuldeingeständnis ausgelegt. Berner und Zentralschweizer Medien lobten die Fans und tadelten die Entscheidungsträger in Bern.

In ihrem Frontpage-Kommentar schloss die Neue Luzerner Pfadizeitung mit den folgenden Worten:

„Zu hoffen bleibt, dass nicht nur die Stadionbetreiber ihre Lehren ziehen, sondern die ganze Fussballschweiz: Hartes Vorgehen gegen Fans ist nicht immer der richtige Weg. Mit etwas mehr Fingerspitzengefühl wäre die Eskalation im und nach dem Spiel auch um das Stadion vermeidbar gewesen.“

Die Fans bekamen also grundsätzlich Recht. Eine Seltenheit für Schweizer Fussballfans, egal wie sich die Sachlage jeweils präsentiert. Das eigentliche Ziel, die Prügelknaben von Protectas und die Lügner vom Stade de Suisse auf juristischem Weg zu bestrafen, wurde aber verfehlt. Doch wenn sie schon nicht bestraft wurden, so wurden sie immerhin öffentlich entlarvt. Zudem: Obige Kommentar-Zeilen in der Pfadizeitung – das zeugt definitiv von einem kleinen Wunder. Vom Bloody-Sunday-Wunder von Bern, 2008.

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Sportlicher Ausblick auf das morgige Spiel
Ach ja: Auch sportlich war das Spiel vom 16.11.2008 ein Desaster, auch wenn das nur am Rand interessierte. Während sich Protectas und Fans vermöbelten, liessen es die Young Boys auch auf dem Rasen krachen, topften in Halbzeit 2 zusätzliche vier Mal ein. Das Spiel endete somit 6:1 für Gelb-Schwarz. Die Vorzeichen, dass für den FCL morgen erneut eine Niederlage droht, sind gegeben. In 18 Meisterschafts-Spielen im Stade de Suisse hat Luzern ganze 12 Partien verloren. Dem gegenüber stehen je drei Unentschieden und Siege zu Buche. Übrigens: Immer, wenn Luzern in den letzten 10 Jahren in Bern gewonnen hat, dann mit 0:1. Wenns morgen hinter Zibung also schäppert, dann siehts schon mal düster aus. Der erste unsägliche „Bäretaxi – z Taxi vo Bärn“-Jingle könnte also bereits die Vorentscheidung bedeuten.

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Nachtrag: Bloss ein komischer Zufall?
„Pikantes“ (Pfadizeitung-Jargon) Detail: Während die Stadionverantwortlichen alles daran setzten, die beiden “politischen Banner” im Gästesektor zu entfernen [“Wir dulden keine politischen Botschaften im Stade de Suisse”], hing vis-a-vis am Zaun des Heimsektors ebenfalls ein grosses, politisches, Transparent mit der Aufschrift „Liberté pour Santos“.

Es handelte sich dabei um eine Berner Solidaritätsbekundung für den Marseille-Fan Santos, welcher im Nachtrag zum CL-Gruppenspiel von OM in Madrid von der spanischen Polizei festgenommen wurde. Er wurde beschuldigt, während des Blocksturms der Sicherheitskräfte eine Sitzschale gegen Beamte geschmissen zu haben. Grund für den Blocksturm: Die Polizei wollte das mutmasslich rassistische Banner der Gruppierung CU84 entfernen. Eine zynische Begründung: Die CU84 gilt als antirassistische Ultra-Gruppe. Auch in Madrid: Ein “rassistisches” Banner. Ein Blocksturm. Unschuldige Verletzte.

Die Mannschaften betreten das Spielfeld. Das Transparent "Liberté pour Santos" hängt vor der Berner Ostkurve.
Die Mannschaften betreten das Spielfeld. Im Hintergrund hängt das Transparent “Liberté pour Santos” vor der Berner Ostkurve.

Das Berner Transparent war also nicht bloss politisch, sondern auch polizeikritisch. Ziemlich grosse Parallelen zu den beiden Luzernern Bannern also.

Das YB-Spruchband interessierte bei den Verantwortlichen aber niemanden. Nur nationale Polizeikritik scheint in Bern als dermassen politisch betrachtet zu werden, dass dagegen vorgegangen werden muss.

Santos wurde von einem spanischen Gericht übrigens zu 3.5 Jahren Haft verurteilt, kam dann aber nach über einem Monat, anfangs Dezember 2008 – kurz vor dem Atlético-Rückspiel in Marseille – auf Kaution frei.

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